Ein halbes Dutzend Stachelkugeln
Der Igel, der am hellichten Tage im Fallobst nach Maden suchte, war viel zu klein für Mitte Oktober. Aber er war unverletzt, und sein Einrollreflex tadellos. Ich setzte ihn wieder zurück um abzuwarten, ob es noch Geschwister und die Mutter gab. Am nächsten Tag sah ich, woher er kam und fand in meinem Komposthaufen zwei weitere Igelkinder. Ich richtete eine Box mit Futter, Katzenaufzuchtsmilch und Wasser ein und installierte die Wildkamera. Die Minis nahmen die Verpflegung gerne an, ein erwachsenes Tier war auf den Bildern zweier Nächte nicht zu sehen. Dafür lief am nächsten Tag ein Kleines über den Rasen, das bereits mit Fliegeneiern besetzt war. Nun war schnelles Handeln angesagt. Die beiden gesunden Stachelritter kamen in eine Transportbox, der verletzte in ein Handtuch auf meinen Schoß. Ich brauchte fast eine Stunde bis alle Eier abgebürstet und – gesammelt waren. Eine unschöne Wunde am Ohr hatte die Fliegen sofort angelockt. Versorgt mit einem Snuggle und Futter konnten sich die Kleinen nun erholen, während ich (natürlich an einem Samstag) versuchte weiterführenden Rat und möglichst auch eine versierte Unterbringung zu finden. Einen sofortigen Rückruf und die ersten wichtigen Tipps bekam ich von Sabine https://www.facebook.com/rotescheune/, danach nur noch Absagen. Die Situation der Igel wird in jedem Jahr schlechter (Nahrungsmangel, zu warme Winter, die Dürre im Sommer), die Stationen sind übervoll. Auf meinem Kompost krabbelten derweil die nächsten zwei Geschwister herum, spät am Abend dann noch Numero Sechs.
Ein Zufall (gibt es ja eigentlich nicht) verschaffte mir dann den Kontakt zu Siegeritta Gebauer https://www.facebook.com/siegeritta.gebauer/. Ich bekam die nächsten Instruktionen zur Unterbringung und zur Versorgung der Wunde des Igelkindes, das als kleinstes gerade einmal 72g wog. Am nächsten Tag durfte ich die vier mit dem geringsten Gewicht (drei unter, das vierte knapp über 100g) zu ihr bringen. Sie reisten weiter auf Pflegestellen im Westerwald und in der Eifel. Dort werden sie aufgepäppelt, gehen in einen überwachten Winterschlaf und im Frühsommer direkt in ein wunderbares Igelleben. Die beiden größten blieben bei mir, bis ich sie mit einem Gewicht von 400g trennen musste. Peter ging zu Sabine, um ebenfalls sein Leben in ländlicher Umgebung genießen zu können. Einzig Olaf ist nun noch bei mir und hat inzwischen die 600g-Marke überschritten. Zeit auch für ihn in ein Aussengehege umzuziehen, noch ein paar 100g an Gewicht zuzulegen und dann zu schlafen.
Meine Entscheidung, ihn hier zu behalten, werde ich sicher noch mehrmals überdenken. Eigentlich wohne ich ja nicht in der Stadt, habe einen naturnahen Garten. Und trotzdem sind es keine guten Bedingungen mehr für ein möglichst gefahrloses Leben. Die wunderbaren Stachler haben einen großen Radius, innerhalb dessen sie sich eben nicht nur in wildtierfreundlichen Gärten bewegen werden. Schlimmer noch: der eine Nachbar hat einen Mähroboter, der andere arbeitet mit einem Freischneider. Und als wäre das nicht schon grauenvoll genug, hat sich nun der dritte einen Laubsauger angeschafft. Mit von Vaterstolz geschwellter Brust sah er zu, wie sein siebenjähriger Sohn sich in der Handhabung übte. Mir wurde eher schlecht. Ich erinnerte das Igelkind in meiner Hand: 72g Leben in Vollendung. Und sah es dann vor mir: rückstandslos geschreddert, oder aufgesaugt als habe es niemals existiert.
Wir haben dieser zerstörerisch mordenden Ignoranz nichts entgegenzusetzen. Wir können nur versuchen zu retten, was möglich ist. In diesem Falle sind es sechs kleine Stachelritter, die überlebt und eine gute Zukunft vor sich haben.
Ohne Hilfe hätte ich das nicht geschafft. Danke an Sabine und Siegeritta, die trotz extremer eigener Belastung keinen Moment zögerten zu beraten und Aufnahme anzubieten. Und auch an meine Kollegen Olaf und Peter, die mich mit Bergen von Zeitungen und Kartons (als Häuser) unterstützten!