Poppi – die Taube von der Autobahn

15. Okt. 2020

Ich sah sie im Augenwinkel, den Bruchteil einer Sekunde. Ein grauer Federball auf ebenso grauem Beton. Nur Tempo 60 in der Baustelle, aber der Hintermann an der Stoßstange verbat jeden Gedanken anzuhalten. Es gab keine Standspur und keinen Seitenstreifen; wenige Meter später schon wieder eine Auffahrt.

Ich war mir so sicher, dass die Taube lebte – unmöglich nicht wenigstens zu versuchen sie noch einmal zu finden. Ich drehte eine „Ehrenrunde“ durch die Stadt um dieselbe Strecke noch einmal zu fahren, und dieses Mal war ich vorbereitet. Ich parkte das Auto etliche Meter weiter hinter einer Baustellenabsperrung und lief zurück, ausgerüstet mit Kescher und Leinenbeutel. Sie kauerte auf einem schmalen Grat, gebildet von der Gabelung der Autobahn und einer Abfahrt. Rechts und links donnerten die Autos an ihr vorbei. Später erfuhr ich, dass sie wohl den ganzen Tag dort zugebracht haben musste. Es gab keinen Raum um zum Flug zu starten. Die junge Taube wäre entweder an einem Auto zerschellt oder elendig verhungert und verdurstet.

Als sie mich bemerkte, war es zu spät; ich hatte sie sicher im Kescher, setzte sie sofort um in den Stoffbeutel und dann in eine kleine Transportbox. Dort verharrte sie regungslos, die ganze Fahrt über und auch bei mir zuhause. Sie wirkte, als sei sie in einer Schockstarre; ich wollte sie nicht in’s Tierheim bringen. Wieder einmal war die wundervolle Sabine zur Stelle: wir trafen uns später am Abend auf halber Strecke zwischen unseren Wohnorten, und jetzt wusste ich die Kleine in den bestmöglichen Händen. Poppi (es war die Abfahrt Bonn/Poppelsdorf, an der ich sie fand) blieb auffällig. Dachte Sabine zunächst auch an einen schweren Schock, stellte sie bald fest, dass die Jungtaube nahezu blind war. Sie hatte bei dem Sturz aus dem Nest, das vermutlich in dem Trägerwerk der über dem Fundort befindlichen Brücke gebaut war, ein schweres Trauma erlitten. Die Schwellung drückte auf den Sehnerv und führte zur Erblindung. Das Emphysem, das sich zusätzlich entwickelte, passte dazu. Dank der erfahrenen Pflegerin erholte Poppi sich von beidem, scheint aber leicht sehbehindert zu bleiben. Trotzdem wuchs sie zu einer wunderschönen, selbstbewussten Taube heran. Sie wird ihr Leben, das fast schon zu Ende war, in Sabines Handicap-Volière verbringen und sicher auch einen netten Täuber für sich gewinnen.

Jede der unzähligen verunfallten und auch verhungerten Tauben schmerzt. Aber Poppis Geschichte macht noch einmal deutlich, dass die Tiere gar nicht immer sofort tot sind. Oft verharren sie in auswegloser Situation um dann qualvoll, unter Schmerzen langsam zu versterben. Es ist an uns auf unsere Mitgeschöpfe zu achten und ihnen Hilfe zukommen zu lassen, wenn immer es die Gegebenheiten zulassen.

 

 

Fotos: Sabine Kallergis

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